Samstag, 24. Mai 2014

Ein "Fake account", Ein Denkmal

Eine Untersuchung der Frage, ob Kunstwerke gleichzeitig Denkmäler sein können



Im Rahmen des European Media Art Festivals (EMAF) 2014 in Osnabrück stellt Alexander Repp seine Arbeit „Fake account“ aus. Sie thematisiert die rasante, globale Verbreitung von ungeprüften Informationen. Im Speziellen wird die Verbreitung einer einzigen Twitter-Nachricht, die unmittelbar nach dem Bombenanschlag auf den Boston Marathon 2013 auftauchte visualisiert.

I WILL KILL ALL OF YOU, YOU KILLED MY BROTHER“

Auf einem kleinen, unscheinbaren Bildschirm läuft eine Art „Film“ ab. Wie in einem Online-Chatroom erscheint nacheinander und in schneller Abfolge immer dieselbe Nachricht „I will kill all of you, you killed my brother“ in weißen Lettern auf schwarzem Hintergrund. Dennoch unterscheiden sich die einzelnen Zeilen. Immer erscheint ein anderer Nutzer des sozialen Netzwerks Twitter als Verbreiter der Nachricht. Wie gebannt und ohne wirklich zu verstehen was in diesem Moment vor meinen Augen abläuft stehe ich vor dem kleinen Monitor und kann den Blick nicht abwenden. Irgendwie erscheint einem diese Nachricht unheimlich bedeutungsschwer. Ein Blick nach rechts und mir fällt wieder ein warum ich überhaupt auf diese Wand in der Kusthalle Osnabrück zugesteuert habe. Dort hängt eine etwas größere Wandarbeit von der ich vorerst vermute, dass sie in keinerlei Zusammenhang mit dem faszinierenden kleinen Monitor dort steht. Tut sie aber doch! Das muss nun auch ich feststellen. Hier ist eindrucksvoll visualisiert worden, was auf dem Bildschirm zu lesen ist. Es ist ein sehr feingliedriges, stark verästeltes Geflecht von Verbindungen dargestellt, die sich in verschiedenen Neonfarben voneinander abgrenzen und gleichzeitig wieder verbinden. Die Aussage dieser zweigeteilten Arbeit erschließt sich mir noch nicht vollkommen, doch mein Interesse ist geweckt und ein markanter ästhetischer Eindruck bleibt. Klar ist, warum auch immer, dass es sich in irgendeiner Art und Weise um eine Internetthematik dreht. Vielleicht um Überwachung? Das würde zumindest in den Rahmen der gesamten Ausstellung „WE, THE ENEMY“ passen. Ich wende mich nun dem etwas knappen Infotext zu und muss feststellen, dass ich mit meiner Vermutung nur teilweise richtig liege. Internet ja, Überwachung eher nein. Hier ein Zitat des Infotextes:

„[Alexander] Repp visualisiert die Verästelungen von Twitter-Nachrichten, die in einem kurzem Zeitfenster nach den Anschlägen auf den Boston Marathon das Wort „killed“ beinhalteten. Viele Twitter-Nutzer hielten eine vermeintliche Nachricht von einem der Attentäter für authentisch („I will kill all of you, you killed my brother“), posteten sie erneut und erstellten ein Täterprofil, das vor einem völlig „gefaktem“ Hintergrund entstand. Die „großen“ Medien verbreiteten dieses dennoch landesweit.“ (http://www.emaf.de/deutsch/festival/programm/ausstellung.html)

Klar ist nun worum es vordergründig geht und ich bin beeindruckt. Im nächsten Schritt versuche ich zu entschlüsseln, wie die zahlreichen Punkte und die, die Punkte verbindenden, Linien in ihren spezifischen Farben zustande kommen. In der kürze der Zeit – ich bin leider etwas in Eile – gelingt es mir nicht. Es gibt noch viel an Kunst zu sehen und deshalb ziehe ich weiter.

„Fake account“ lässt mir allerdings auch im Nachhinein keine Ruhe. Ein paar Tage später durchforste ich das Internet nach näheren Informationen. Fündig werde ich zu erst auf der offiziellen Seite des European Media Art Festivals. Dies war auch meine erste Anlaufstelle. Allerdings bringt mich dies nur indirekt weiter. Hier finde ich lediglich den Titel, ein Bild der Installation, den kurzen, oben zitierten Infotext und den Namen des Künstlers. Letzterer hilft mir allerdings bei meiner Suche. So stoße ich nach etwas Recherche auf einen Eintrag beim Online Portal Scribd.com in welchem Alexander Repp selbst Stellung zu seinem Werk bezieht.

Demnach handelt es sich bei dem was auf dem Monitor abläuft um einen kurzen live Mitschnitt der Postings auf Twitter, die das Wort „killed“ beinhalteten. Die grafische Visualisierung dieses Mitschnitts setzt sich nun laut Repp aus je einem Punkt für die entsprechende Nachricht, den/die NutzerIn und den begefügten Hashtags (#) und den gleichfarbigen Linien, die, die miteinander in Verbindung stehenden Punkte verbinden, zusammen. Die Arbeit gefällt mir immer besser. Zum einen klagt sie die unglaublich schnelle Verbreitung nicht bestätigter Informationen über das Internet an, zum anderen die Tatsache, dass eben Solche von den großen, traditionellen Medien übernommen und weiterverbreitet werden und damit eine subjektiv höhere Glaubwürdigkeit gewinnen, obwohl sie schlichtweg falsch sein können. Weiterhin wird kritisiert, dass die Verbreitung von Informationen offenbar von Teilen der Gesellschaft als Möglichkeit zur Gewinnung von Aufmerksamkeit gesehen wird, wodurch das Verbreiten falscher Informationen durch Fake-Accounts erst attraktiv und damit möglich wird. Hinzu kommt der Appell sämtliche Netzwerke (nicht nur in Internet) stärker und genauer zu analysieren, um ein besseres Verständnis davon zu bekommen wie und auf welcher Grundlage sich heute unser „Wissen“ bildet und wie subjektiv dieses Wissen ist. Kunst wie ich sie mag. Verstanden, abgespeichert, fertig.

Von wegen! Zwei oder drei Wochen später erhalte ich in Rahmen des Seminars „Erinnern und Vergessen – didaktische und künstlerische Strategien in der Erinnerungskultur im Kontext des ersten und zweiten Weltkrieges in Osnabrück und Umgebung“ bei Ruppe Koselleck, die Aufgabe eines der Kunstwerke aus der Austellung „WE, THE ENEMY“ im Hinblick auf ihre theoretische Eignung als Denkmal zu reflektieren. 
Augenblicklich habe ich den kleinen Monitor mit seinen immer gleichen und doch unterschiedlichen Nachrichten vor Augen. Kann „Fake account“ von Alexander Repp als Denkmal angesehen werden? Vielleicht in Gedenken an die Opfer des Bombenanschlages in Boston? Das ist der erste Gedanke, der mir diesbezüglich durch den Kopf schießt. Allerdings stellt sich schnell heraus, dass das Werk als Denkmal für dieses Ereignis nicht wirklich funktioniert. Es geht nicht um die Opfer. Es geht nicht um die mutmaßlichen Täter. Genaugenommen geht es hintergründig nichteinmal wirklich um den Anschlag auf den Boston Marathon. Das war mir bei meiner vorherigen Recherche schließlich ziemlich schnell klar geworden. 
Viel eher könnte es als Denkmal denjenigen gegenüber funktionieren, die jemals durch un(genügend)geprüfte Fehlinformationen einen Schaden erlitten haben. Zum Beispiel fälschlich juristisch und gesellschaftlich Verurteilten gegenüber.

Auf der anderen Seite wäre eine Transformation zu einem Mahnmal, anstelle der Denkmalsfunktion denkbar. Ein Mahnmal all denjenigen gegenüber, die durch die ungeprüfte Weitergabe von Informationen dazu in der Lage sind den entsprechenden Fehlinformationen Gehör zu verschaffen und damit den Personen, auf die sich diese beziehen, zu schaden. Ein Mahnmal an uns alle! Eine stetige Ermahnung an einen jeden Bürger dieser Erde sich mit dem, was man zu verbreiten gedenkt vorher eingehend auseinanderzusetzen und nur dann eine Information weiterzugeben, wenn man sich absolut sicher sein kann, dass diese auch richtig ist und niemandem bzw. niemand Unschuldigem schaden kann. Damit sind auch und vor allem die großen Medien angesprochen, die sich mit dem Orden der Glaubwürdigkeit schmücken. Sie tragen maßgeblich zur Wissens-, Meinungs- und Urteilsbildung einer breiten Masse von Menschen bei und sind deshalb angehalten sämtliche Informationen die zu ihnen gelangen vor der Weiterverbreitung eingehend auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Vorfälle wie die nach dem Anschlag auf den Boston Marathon dürfen nicht geschehen. Aber auch juristische Instanzen, wie z. B. Gerichte werden ermahnt keine voreiligen Schlüsse aus ungeprüften Informationen zu ziehen.
Weiterhin mahnt uns „Fake account“ unser eigenes Geltungsbedürfnis und dessen Befriedigung, durch unüberlegte Verbreitung von Fehlinformationen über das Internet, zugunsten der Wahrheit zurückzustellen.
Sollte ich Alexander Repps Installation mit einer Art Inschrift für ein Denk-/Mahnmal versehen würde sie folgendermaßen lauten:
„In Gedenken all derer, die Opfer falscher Informationen wurden, sind und je sein werden. Eine Mahnung denen, die daran Schuld trugen, tragen und je tragen werden.“
Somit kann „Fake account“ von Alexander Repp meiner bescheidenen Meinung nach durchaus sowohl als Denk- als auch als Mahnmal angesehen werden.